Verstehende Prävention

Der Ansatz der „Verstehenden Prävention“ ist eine Antwort auf die Grenzen, an die der normative, expertenorientierte und bürokratische Arbeitsschutz stößt, wenn er psychische Gefährdungen und Belastungen eindämmen und bekämpfen will. Verstehende Prävention delegiert den Gesundheitsschutz nicht an Experten, die messen, erklären, postulieren und anordnen, sondern sie will die Beschäftigten ermächtigen, ihre Gesundheit in die eigenen Hände zu nehmen, die Gesundheitsrisiken in der Arbeit und ihre Ursachen zu erkennen und ihnen durch eigenes souveränes Handeln (vernünftiger Umgang mit Belastungen/Coping) oder durch die Veränderung pathogener Verhältnisse zu begegnen. Ihr liegt kein normatives, sondern ein interpretatives Paradigma zu Grunde: die psychische Belastung ist nicht oder nur  bedingt objektivierbar; sie entsteht und wirkt im Inneren der Subjekte und sie ist von daher auch nur von innen, von den Subjekten selber aufzubrechen. Methodisch zieht diese Rückbindung der Gesundheitsfrage an die Arbeitsperson eine neue ‚Technologie‘ der Prävention nach sich, die sich in sechs Grundsätze fassen lässt:

  1. Psychischen Belastungen kann man nur auf den Grund gehen, wenn in die Betriebe institutionelle Reflexivität und in die Arbeitspersonen personale Reflexivität einzieht. Betriebe sollten das Selber Denken der Beschäftigten über die Ursachen psychischer Risiken ermöglichen und fördern sowie Mechanismen der Selbstbeobachtung betrieblichen Handelns und seines gesundheitlichen Gefährdungspotentials entwickeln.
  2. Geschehen kann eine solche institutionelle und personelle Introspektion nur kommunikativ, partizipativ und qualitativ. Dies meint nicht nur, dass die subjektive Perspektive der Beschäftigten Eingang in die Belastungsanalyse findet, sondern dass die Beschäftigten selber die Subjekte der Belastungsanalyse werden.
  3. Eng damit verknüpft ist die dritte Orientierung, nämlich das Vertrauen in die Laienkompetenz und die Abkehr vom Expertenarbeitsschutz. Sie ist eine Antwort auf die Unmöglichkeit kausaler Beweisführung im Falle psychischer Belastungen.
  4. Ebenso greift die sonst im Arbeitsschutz übliche Trennung zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention bei psychischen Belastungen nicht. Weder lässt sich der Leistungsdruck einfach so abschaffen, was Verhältnisprävention wäre, noch reicht es, die Arbeitspersonen resilient zu machen, was Verhaltensprävention intendiert. Wenn der Feind auch im Inneren steckt (Selbstgefährdung, die durch indirekte Steuerung ausgelöst wird), geht der Kampf gegen den äußeren ins Leere. Und Feind gegen sich selber wird man nicht ohne Verstrickung in Verhältnisse, die nicht begriffen und durchschaut sind.
  5. Die Verhütung psychischen Leids kann man nicht in der Manier eines betrieblichen ‚Klassenkampfes um Gesundheit‘ bewerkstelligen. Dazu sind die Ursachen psychischer Belastungen zu vielschichtig und damit würde man auch die Handlungsmacht eines einzelnen Betriebes kolossal überschätzen. Die Ohnmachtsgefühle haben ja nicht nur die Beschäftigten, sondern ebenso das Management, das sich als Gefangener der entfesselten Ökonomie wähnt. Was man aber machen kann, ist die Vermeidung unnötiger psychischer Belastungen durch die geduldige Suche nach selbst verursachten Organisations- und Arbeitsproblemen und die Schaffung von Belastungspuffern durch den Erhalt und Ausbau betrieblicher Gesundheitsressourcen. Es ist viel erreicht, wenn die Betriebe beginnen, hinter dem Sachzwang den eigenen Gestaltungsspielraum für ein halbwegs gesundes Arbeiten zu entdecken.
  6. Schließlich sieht die Verstehende Prävention ein, dass sich psychische Belastungen nicht nach einer Ingenieurlogik weglösen lassen. Die Eigenart psychischer Belastungen bringt es mit sich, dass man viel länger bei der Problemerkennung und -benennung verharren wird, dass sie möglicherweise nie abgeschlossen wird, sondern ein Prozess bleibt, der immer wieder in Gang gesetzt werden muss. Es ist deshalb eine ‚bernsteinianische‘ Haltung in der Prävention angezeigt: ein Sich auf den Weg machen, denn dieser Weg ist schon ein Bestandteil des Ziels. Prozesslogik statt Lösungslogik.